Der Kleine Rote Fisch war auf dem Heimweg von der Schule. Seine besten Freunde, die Kleine Weiße Fischin und der Kleine Blaue Fisch gingen mit ihm. „Papa will mir heute etwas zeigen.“, erzählte er, „Ich weiß aber noch nicht was.“
„Das ist ja aufregend, sicher hat es etwas mit Flossenball zu tun.“, überlegte der Kleine Blaufisch. „Vielleicht geht er mit dir zum Match BVB Dorschmund gegen den VfL Wolfsbarsch.“
„Du redest Schwachsinn!“, bemerkte die Kleine Weiße Fischin. „Du weißt ganz genau, daß die Familie Rotfisch weder für die einen noch für die anderen ist. Es muss etwas anderes sein.“ Die Kleinen Fische rätselten noch eine Weile herum, fanden aber keine zufriedenstellende Lösung und waren bald bei ihren Wohnhöhlen angelangt.“Sag’ uns, was es war!“, bat der Kleine Blaue Fisch, und alle schwammen nach Hause.
Papa Rotfisch wartete schon auf seinen Sohn. „Ich hab uns ein paar Algen gemacht, und nach dem Essen können wir gleich aufbrechen.“, sagte er.
„Algen, Algen, voll gut, endlich wieder Algen!“, freute sich der Kleine Rotfisch und aß schnell und mit gutem Appetit seine Algen auf. Als er satt war, fragte er: „Wo gehen wir hin?“
„Wie du ja weißt, mein Sohn, legen deine Mutter und ich seit Jahren immer etwas zur Seite. Wir haben schon eine ganze große Tasche voll mit Kauri- und anderen Muscheln, bunten Steinen und anderen Wertobjekten zusammengespart und, bis jetzt, haben wir sie in unserer Höhle versteckt. Nun gibt es aber eine neue Einrichtung in unserem Schönen Bunten Riff, die kürzlich von einer Gruppe von Sandfischen gegründet worden ist. Man nennt so etwas eine Bank und bei uns ist also eine Zweigstelle dieser Sandbank eröffnet worden.“
„Und was macht so eine Bank?“, fragte der Kleine Rote Fisch.
„Wenn man, wie wir, Wertobjekte besitzt, kann man sie entweder bei sich zu Hause aufbewahren, oder aber sie einer Bank anvertrauen, die verspricht, sie arbeiten zu lassen. Darunter ist folgendes zu verstehen: Die Sandfische nehmen dein Geld und, ohne dass du irgendetwas dazu tun müsstest, zahlen sie dir jährlich einen bestimmten Anteil dessen, was du ihnen gegeben hast, aus, ohne dass aber dein Schatz kleiner dadurch kleiner wird. Sie nennen das Zinsen.“
„Aber wie soll denn das gehen, Papa ? Woher nehmen die denn diese Zinsen?“
„Der Trick besteht darin“, erklärte Papa Rotfisch, „dass es immer Leute gibt, die Objekte wie die unseren brauchen, um irgendetwas anschaffen zu können, wofür sie im Augenblick gerade nicht die Mittel haben. Die Sandfische leihen ihnen etwas, dafür müssen die Leute aber etwas mehr hergeben, also auch Zinsen, aber andersherum. Diese Zinsen werden dann zwischen der Bank, also den Sandfischen, und den Einlegern, also uns, aufgeteilt.“
„Ja, ich erinnere mich, als Herr Schwertfisch seinen neuen Algenmähdrescher angeschafft hat, mit der er seine Algenfelder aberntet, musste er auch Kauris ausleihen. Und jetzt gehen wir also miteinander zu dieser Bank?“
„Genau.“, antwortete Papa Rotfisch. „Es wird für uns beide sicher interessant, und ich habe den Eindruck, dass diese Sandbank eine seriöse Einrichtung ist. Ich habe nur Angst, dass der große Schatz, den die Bank natürlich haben muss, auch Räuber anzieht.“
„Aber Papa!“, meinte der Kleine Rote Fisch, „Bei uns gibt es doch gar keine Räuber. Das musst du als Gendarm doch wissen.“
„Du hast schon recht“, erwiderte Papa Rotfisch, „dass es in unserem Riff keine Übeltäter gibt. Der Tigerhai belästigt vor allem die in großen Mengen durchziehenden Heringsschwärme, uns hat er seit Jahren in Ruhe gelassen und auch sein Scherge, der Thun, ist nicht näher als bis zu den Algenfeldern an uns herangekommen. Aber man kann nie wissen. Besser wachsam bleiben.“
Papa Rotfisch nahm also die Tasche die er auf der Bank deponieren wollte und schwamm, von seinem Sohn begleitet, ruhig in Richtung Bank. Der Kleine Blaue Fisch und die Keine Weiße Fischin baten um Erlaubnis, die Papa und Sohn Rotfisch begleiten zu dürfen, und wurden selbstverständlich eingeladen, sich ihnen anzuschließen. Der Kleine Rote Fisch teilte seinen Freunden mit, was ihm sein Vater bezüglich der Sandbank erklärt hatte, wobei die beiden aus dem Staunen nicht herauskamen.
„So etwas brauchen wir auch!“, erklärten sie, und: „Ist dein Vater sicher, dass es eine Gefahr von Überfällen gibt?“
„Sicher ist er nicht, nein.“, meinte der Kleine Rotfisch nachdenklich, „Er möchte nur für den Ernstfall vorbereitet sein. Ich glaube, das ist mit ein Grund, warum er in die Bank gehen will. Er möchte sich das Ganze anschauen.“
Am Eingang der Bank hielten zwei gefährlich aussehende Sägefische Wache, die unsere Freunde mit durchdringenden Blicken musterten. Als sie die in Papa Rotfisch den Polizeiinspektor des Riffs erkannten, wurden ihre Minen schon etwas freundlicher, aber es war ihnen deutlich anzumerken, dass sie wachsam blieben.
Immerhin ließen sie Papa Rotfisch und sein Gefolge von Kleinen Fischen passieren. Diese begaben sich zum einzigen Schalter, der schon geöffnet war und hinter dem eine einsame Sandfischdame auf Kundschaft wartete. „Was kann ich für sie tun, mein Herr?“, fragte sie Papa Rotfisch, und der erklärte es ihr.
„Es ist uns eine Ehre, einen hohen Beamten wie sie, eine Stütze der Gesellschaft des Schönen Bunten Riffs, als Kunden begrüßen zu dürfen!“, flötete die Sandfischdame. „Wir bieten ihnen an jähr-lichen Zinsen ein Objekt im Wert von einem der zwanzig von ihnen bei uns deponierten Objekte an.Einen besseren Zinssatz werden sie im gesamten Ozean nicht bekommen!“
„Davon bin ich überzeugt.“, antwortete Papa Rotfisch. „Ich habe bereits gehört, dass sich ihr Haus eines ausgezeichneten Rufes erfreut!“ Mit diesen Worten übergab er der Sandfischdame seine Tasche und erhielt dafür eine Empfangsbestätigung. Im selben Augenblick ging die Eingangstür auf und herein kam Bürgermeister
Mondfisch. Er blickte allen anwesenden Fischen fest in die Augen und sagte dann mit tönender Stimme:
„Getreue Unterta … hm, will sagen, sehr geschätzte Mitbürger! Freut euch über die Eröffnung dieser modernen und nützlichen Einrichtung, die dank meines unermüdlichen Ringens um das Wohl unseres Riffs kürzlich hier …. Hm, ja, also ich meine, das wollte ich sagen. Kurz und gut, sehr geehrte Sandfische, nehmt meinen Willkommensgruß entgegen!“
„Ja, eh, sehr gern, danke.“, sagte die Sandfischdame hinter ihrem Schalter, beugte sich zu Papa Rotfisch und flüsterte ihm ins Ohr: „Wer ist denn dieser schräge Typ?“
„Das ist unser Bürgermeister.“, antwortete Papa Rotfisch, woraufhin sich die Sandfischdame wieder dem Mondfisch zuwandte: „Es ist uns eine Ehre, Herr Bürgermeister. Was können wir für sie tun?“
Plötzlich wurde die Eingangstür gewaltsam aufgerissen und die grässliche Fratze des Tigerhais tauchte auf. „Ha!“, rief er aus, „Jetzt hab ich euch! Flossen hoch und her mit dem Inhalt des Tresors. Mit den Wertobjekten der Sandbank kann ich mir einen ganzen Heringsschwarm für mich ganz allein kaufen. Ha Ha Ha!“
„Banküberfälle sind vorschriftswidrig“, warf die Sandfischdame ein und Papa Rotfisch fügte hinzu: „Der An- und Verkauf von Fischen aller Art ist meeresgesetzlich verboten. Außerdem verhafte ich sie wegen Bankraubs.“
„Was willst du kleiner Fischwachtmeister mir denn tun?“ fragte der Tigerhai und ließ wieder sein widerliches Lachen hören. „Der Thun hält eure Wachen in Schach, wir haben von hinten ihre Sägen mit Algenseilen zusammengebunden und dadurch sind sie jetzt wehrlos.“
Zur selben Zeit führten die vom Thun bewachten Sägefische folgendes Gespräch:
„Wie klug und schlau sie doch sind, Herr Thun, dass es ihnen gelungen ist, uns auszuschalten.“, sagte der erste Wächter und der zweite fügte hinzu: „Vor allem, da sie uns mit Algenseilen gefesselt haben. Damit können sie uns sowohl festbinden als auch ernähren. Und wie die Algen duften, und wie die schmecken werden! Probieren sie doch selbst!“
„Riechen gut, in der Tat.“, sagte der Thun. „Und schlau bin ich auch, da habt ihr Recht. Schmecken die wirklich so gut?“, fragte er und biss ein großes Stück von dem Seil ab, mit dem die Sägen zusammengebunden waren. Damit waren die Sägefische wieder frei und in kürzester Zeit war der Thun seinerseits fest verschnürt. Danach schlichen die Sägefische behutsam in die Bank, wo der Tigerhai gerade Papa Rotfisch erklärte: „Ich und der Thun, wir werden die reichsten und mächtigsten Fische im ganzen Mittelmeer. Ihr werdet sehen: Dieser Überfall ist erst der Anfang.“
Während dieser Rede zupfte der Kleine Rote Fisch seinen Vater an der Flosse und zeigte ihm die beiden Wächter, die sich mittlerweile an den Tigerhai herangepirscht hatten. Papa Rotfisch sagte daher: „Ein Anfang vielleicht, aber ganz sicher auch das Ende. Ich wiederhole: Sie sind verhaftet!“
Der Hai konnte gerade noch „Ha Ha!“ sagen, ehe die Wächter ihn fesselten. „Wie denn, was denn, so was aber auch!“, war alles was er hervorbrachte, ehe die Sägefische ihn knebelten.
„Wir haben kein Gefängnis, das haben wir bisher nie gebraucht.“, sagte Papa Rotfisch. „Bringen wir ihn doch in der Höhle von Herrn Krake unter, das ist die einzige, die groß genug ist.“
Gesagt, getan. Der Tigerhai und sein Scherge wurden zum Kraken gebracht, der sich mit einem leicht genervten „Man kann in diesem elenden Riff niemals in Ruhe nichts tun.“ ins Unvermeidliche fügte.
Während Bürgermeister Mondfisch allen, die es hören wollten, versicherte, dass dank seiner Umsicht die Situation wieder unter Kontrolle war, wurde ein festes, aus Korallen gefertigtes Gitter angebracht und zwei Delphine meldeten sich freiwillig, um die Übeltäter zu bewachen.
Der Thun, der nichts Besseres zu tun hatte, fand sich rasch mit seinem Schicksal ab, ja, er fand es sogar ganz angenehm, auf Gemeindekosten verpflegt zu werden, noch dazu mit den qualitativ hochwertigen Algen von Algenhändler Schwertfisch. Der Hai hingegen war fuchsteufelswild: immer nur Algen, und das musste ihm, dem unbarmherzigen Heringsjäger, passieren!
Mittlerweile hatte die Sandfischdame auch Herrn Dr. Sandfisch, den Bankdirektor von den Ereignissen in Kenntnis gesetzt, und dieser gratulierte Papa Rotfisch und bedankte sich herzlich bei ihm und den Sägefischen. Schließlich wandte er sich dem Kleinen Roten Fisch, der Kleinen Weißen Fischin und dem Kleinen Blauen Fisch zu: „Auch ihr seid äußerst tapfer gewesen! In meiner Bank wird es für euch immer einen Algenlolli geben, und wir werden euch und euren Eltern besonders günstige Konditionen einräumen.“
„Algen! Algen! Sogar Algenlollis!“, jubelte ein überglücklicher Kleiner Roter Fisch und seine Freude kannte keine Grenzen, als ihm seine Mutter auch noch ein köstliches Algenabendessen vorsetzte. Und am Abend, nachdem Papa Rotfisch ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vom Kleinen Roten Menschen erzählt hatte, schlief er ganz zufrieden in seinem weichen Anemonenbett, den Kopf zwischen Kissen und Kuschelkrabbe verborgen, ein.
© 2017 Olivier Fuchs – http://www.derkleinerotefisch.de