5. Rhône auf, Rhône ab

Eines schönen Tages, es war Wochenende, machte der Kleine Rote Fisch gemeinsam mit seinen Rotfisch-Eltern einen Ausflug.

„Wir schwimmen zu einer Flussmündung, der des Flusses Rhône,“,sagte Papa Rotfisch, „da kannst du den Geruch von Süßwasser kennenlernen.“

„Was ist das, Süßwasser?“, fragte der Kleine Rote Fisch und seine Mama antwortete ihm: „Das ist ganz normales Wasser, nur fehlt das Salz. Wir können darin nicht atmen, und der Geruch ist auch nicht gut, aber es gibt immerhin Fische, die darin überleben können, wenn mir auch nicht klar ist, wie das gehen kann …“

Die Familie Rotfisch schwamm also ganz gemächlich zu der Flussmündung und bewunderte unterwegs die Kelpwälder, als der Kleine Rote Fisch plötzlich ausrief:

„Mama, Papa, hier stinkt es!“

„Da muss ich dir Recht geben,“ meinte Papa Rotfisch, „wir nähern uns nämlich dem Süßwasser, das sich hier in unser schönes Meer ergießt. Wir nehmen an, dass die Bewohner von oberhalb der Mündung dieses Wasser loswerden wollen, denn, wie du ja selbst riechen kannst, ist es nicht sehr verlockend. Du kennst ja die Menschen, diese Landtiere, die von Zeit versuchen, ihrem traurigen Leben zu entkommen und uns auf ihren lauten Flößen – ihren unverschämt lauten Flößen, das muss ich schon sagen – ihre Besuche abstatten. Sie wohnen an diesem unbenutzbares Wasser führenden Kanal, den sie Rhône nennen, was wohl so viel wie Abwasser bedeuten muss.“

„Einfach ekelhaft!“, meinte Mama Rotfisch und der Kleine Rote Fisch konnte sich diesem Urteil nur anschließen.

Sie schwammen dennoch unbeirrt weiter, als ein fremder Fisch sie ansprach. Er hatte einen silbrig glänzenden Körper mit runden Punkten und rief: „Ey, Ihr da, Rotfische! Ich konnte nicht umhin, eure Kommentare über unsere Gegend mitzuhören. Wo habt ihr denn diese Vorurteile her?“

„Aber hier stinkt es doch wirklich!“, meinte der Kleine Rote Fisch.
„Und sie leben tatsächlich hier?“

„Aber sicher doch!“, antwortete der große, rundgefleckte Fisch. „Ich bin eine Meerforelle und als solche fühle ich mich im Brackwasser – das ist diese Mischung aus Salz- und Süßwasser, in der wir uns jetzt befinden – sehr wohl. Rhôneaufwärts gibt es viele Fische, und die sind dort alle gesund und munter. Im Meerwasser könnten sie allerdings nicht überleben. Und an den Ufern des Flusses gibt es eine ganze Reihe von Landlebewesen, und die sind auch mit ihrem Schicksal durchaus zufrieden.“

„Das ist ja ganz unglaublich!“, rief Papa Rotfisch aus und der Kleine Rote Fisch bettelte: „Können wir dorthin schwimmen und uns das ansehen? Mama, Papa, bitte, bitte!“

„Das wird nicht gehen, mein Großer.“ antwortete Papa Rotfisch. „Dieser Fluss ist für unser Atmungssystem nicht geeignet. Das Salz fehlt. Es tut mir leid, aber da kann man leider nichts machen.“

„Warten sie einen Augenblick“, unterbrach ihn die Meeresforelle „Mir fällt da die Geschichte mit der Sardine, die in einer Dose den Fluss hinaufgeschwommen ist, ein. Vielleicht finde ich eine Lösung für ihr Problem. Kommen sie morgen zur selben Zeit wieder.“

„Papa, Mama, machen wir das! Bitte, bitte!“ Der Kleine Rote Fisch sah seine Eltern aus großen Augen an.

„Warum eigentlich nicht!“, sagte Papa Rotfisch. „Was meinst du, meine Liebe?“, fragte er seine Frau und diese antwortete: „Wenn du glaubst, dass es nicht zu gefährlich ist. Morgen ist keine Schule, da hätten wir Zeit.“ Und zur Forelle gewandt: „Herzlichen Dank
für ihr freundliches Angebot.“

„Dann bis morgen also!“, sagte die Forelle und wandte sich der Flussmündung zu.

Die Familie Rotfisch kehrte sehr zufrieden in ihr Heim zurück. „Was gibt es heute Abend zu essen?“ fragte der Kleine Rote Fisch
und seine Mutter antwortete: „Algen.“, worauf der Kleine jubelte: „Algen, wie fein. Endlich wieder Algen.“ Am nächsten Morgen machte sich Familie Rotfisch nach einem kräftigenden Algen frühstück zum vereinbarten Treffpunkt auf. Unterwegs stießen sie
auf Familie Blaufisch, die gerade mit Familie Weißfisch Neuigkeiten austauschte.

„Nichts wie weg! Der Bulle kommt!“ scherzte Papa Blaufisch und schlug Papa Rotfisch kräftig auf die Schulter. „Wo geht ihr hin?“

Papa Rotfisch erzählte es ihm und da die Kinder sofort durcheinander riefen „Das wollen wir auch!“, „Dürfen wir?“, „Bitte, bitte, Mama, Papa!“, wurde beschlossen, Herrn Meerforelle zu fragen.

Nach wenigen Minuten erblickten sie die Forelle auch schon, die eine durchsichtige Glasflasche an einer Nylonschnur hinter sich herzog.

„Guten Morgen, die Rotfische“, sagte sie, so gut es mit der Schnur im Maul eben ging. „Hier ischt eure Reischegelegenheit.“

„Guten Morgen, Herr Meerforelle!“, antworteten die Rotfische höflich und Papa Rotfisch fügte hinzu: „Ich kenne solche Gegenstände. Die Menschen sagen „Flaschen“ dazu und meiner Meinung nach muss es da irgendeinen Zusammenhang mit Musik geben: Jedes Mal ,wenn von einem ihrer Flösse laute Musik kommt, werden solche Flaschen – allerdings kleiner und meist grün – zusammen mit Zigarettenkippen und anderem Müll ins Meer geworfen.“

„Das mit der Musik stimmt nicht ganz, Herr Rotfisch“, erläuterte die Forelle. „Die Menschen bewahren darin ihre Getränke auf. Wie auch immer, mit Hilfe dieser Flasche werde ich ihnen mein Land zeigen können. Ich habe sie zur Hälfte mit Salzwasser gefüllt und, wie sie sehen, ragt ihr oberer Teil aus dem Wasser hinaus. Wenn sie also die Köpfe aus dem Wasser strecken, können sie das Ufer und seine Bewohner sehen. Steigen sie ein!“

„Einen Augenblick noch, bitte, Herr Forelle.“, unterbrach Papa Rotfisch. „Ich möchte ihnen unsere Freunde, die Familien Blaufisch und Weißfisch, vorstellen. Wir wollten sie fragen, ob es möglich wäre, dass sie mit uns mitkommen.“

„Da sie alle nicht sehr groß sind, müsste das schon gehen.“ überlegte die Forelle. „Steigen sie also alle ein!“

Als das geschehen war, zog die Forelle sie zu einer dunklen Form nahe der Flussmündung und befestigte die Schnur daran. „Das“, sagte sie, „ist ein Paddelboot. Die Insassen machen gerade Pause, aber sie werden bald wieder flussaufwärts fahren. Ich habe nicht die Kraft, euch gegen die Strömung zu ziehen, die aber schon. Selbstverständlich begleite ich euch.“

Nach wenigen Augenblicken setzte sich das Boot, von zwei Paddeln angetrieben, in Bewegung, um bald in den Fluss selbst einzuschwenken. Und welche Überraschung. Die Fische sahen

auf ihrer Reise jede Menge Lebewesen: Krebse, Schnecken, Muscheln und andere Weichtiere und natürlich Fische in großer Zahl, Saiblinge, Barben, Schleien, alle möglichen Forellen,
zu viele, um sie alle nennen zu können. Sogar ein riesiger Wels schwamm unter ihrer Flasche durch und am Rande des Schilfs erblickten die Fische auch den gefährlichen Hecht, der auf kleine Barsche Jagd machte.

„Vor dem muss man sich in Acht nehmen!“, warnte die Forelle ihre Gäste, „Der Hecht ist ein unbarmherziger Jäger, ein bisschen wie euer Barrakuda.“

„Schrecklich!“, rief der Kleine Rote Fisch, „Grauenvoll.“, fügte die Kleine Weißfischin hinzu und „Abseits!“ rief der Kleine Blaue Fisch, der wie immer an Flossenball, seinen Lieblingssport, dachte.

„Habt keine Angst, wir sind in Sicherheit.“, beruhigte sie Papa Rotfisch, und weiter ging es im Kielwasser des Bootes, während die Meerforelle ihnen alles erklärte.

„Was hier links aussieht wie ein großer Haufen Steinquader wird Stadt genannt.“, erfuhren sie und: „In diesen Quadern, Häuser genannt und mit künstlichen Höhlen vergleichbar, wohnen die Menschen. Hier vorne könnt eine Reihe von Flößen sehen, sogenannte Boote. Die großen Pflanzen mit dem grünen Stamm und der grünen Krone sind Bäume. Sie können ganze Wälder bilden, unserm Kelp nicht unähnlich. Wie ihr seht, benützen die Menschen eine ganze Reihe von lärmenden Maschinen, zum Teil auch um sich fortzubewegen. Rechts könnte ihr eine kleinere Abart menschlicher Siedlungen sehen, ein Dorf und die schwarz weiß gefleckten Tiere sind Kühe. Sie weiden gerade Gras ab. Das ist das Grüne am Boden und ist für sie das, was für uns die Algen sind.“

„Weiden die Menschen auch?“, fragte der Kleine Rote Fisch.

„Nicht dass ich wüsste,“ antwortete die Forelle. „also, ich glaub nicht, ich hab noch nie einen dabei gesehen, aber man weiß ja nie …“

Unsere Fische betrachteten all diese Neuheiten mit großen Augen, als eine lange, von ihrer Tochter begleitete Aaldame des Weges kam. Neugierig schwamm das Aalmädchen auf die Flasche zu.

„Wer seid ihr und was macht ihr hier?“, fragte sie. Herr Forelle erklärte es ihr.

„Merle, lass diese Leute in Ruhe!“ rief die Aaldame aber Papa Rotfisch beruhigte sie: „Kein Problem, gnädige Frau. Herr Meeresforelle war so freundlich, uns das Süßwasserreich zu zeigen und ich muss zugeben, dass wir angenehm überrascht sind. Es ist ein Vergnügen, ihre Bekanntschaft zu machen.“

Plötzlich landete das Boot, das sich bereits seit einigen Minuten dem Ufer genähert hatte. Die Forelle sagte: „Jetzt müssen wir uns beeilen. Ich binde euch jetzt los, das Boot fährt nicht weiter.“

„Aber wie kommen wir ohne Boot zurück?“, fragte der Kleine Blaue Fisch. „Du Otto!“ sagte die Kleine Weißfischin. „Das ist doch ganz klar, wir lassen uns von der Strömung ins Meer zurücktreiben.“

„Ganz recht, junge Dame.“, bestätigte Herr Forelle. „Ich werde euch zur Mündung begleiten.“

„Können wir mitschwimmen, Mama?“, fragte das Aalmädchen und da die Mutter einverstanden war, machten sich alle in Richtung Rhônemündung auf. Lange Zeit ging alles gut, aber an einer Flussbiegung verhedderte sich die Schnur, die immer noch an der Flasche hing, im Schilf. Obwohl die Aaldame und Herr Forelle aus Leibeskräften zogen, gelang es ihnen nicht, die Schnur zu befreien. Als das Aalmädchen einen Hecht sah, der in der Nähe vor sich hin schlummerte, kam ihr eine Idee.

„Versteck dich, Mama, und sie auch, Herr Forelle. Ich werde den Hecht anlocken.“ Sagte es und schwamm rasch auf den Schlafenden zu.

„Bist du verrückt geworden? Komm sofort zurück!“, schimpfte Mutter Aal, aber ihre Tochter hatte den Hecht bereits erreicht und kitzelte ihn mit ihrem Schwanz an der Nase.

„Frechheit!“, fauchte der Hecht und nahm die Verfolgung der kleinen Aalin auf. Dieses schlüpfte behende zwischen den Schilfhalmen durch und versuchte, den wütenden Fisch zu der Flasche mit den Fischen zu locken. Der kräftige Körper des Hechts erreichte bald eine hohe Geschwindigkeit und als das Mädchen schon fast bei unseren Freunden angekommen war, schwenkte es plötzlich nach rechts ab. Der Hecht konnte nicht mehr abbremsen, prallte mit voller Wucht mit dem Kopf auf die Flasche auf – und die Schnur riss.

Während der Hecht noch ganz benommen wieder den Schutz des Schilfs aufsuchte, setzten die Flasche und ihre Insassen ihren Weg flussabwärts fort.

„Das war eine ausgezeichnete Idee, Äalchen!“, lobte Papa Rotfisch aber die Mutter der kleinen Heldin war von der Rettungsaktion ihrer Tochter weniger begeistert. „Du bist kein Äalchen, ein dummes Würstchen bist du! Der Hecht hätte dich verschlingen können“. Aber sie war froh, dass nichts passiert war, nahm ihr Aalmädchen zärtlich in die Flossen und gab ihm einen herzhaften Kuss. Zu den anderen gewandt sagte sie dann: „Wir schwimmen jetzt heim, wir kommen jetzt ins Brackwasser. Auf Wiedersehen und gute Weiterreise.“

„Auf Wiedersehen, Frau Aal, auf Wiedersehen, kleine Aalin!“ riefen alle und der Kleine Rote Fisch fügte nach Südwesten zeigend hinzu: „Komm uns doch mal besuchen. Wir wohnen am Schönen Bunten Riff. Es ist nicht weit, nur eine Stunde in dieser Richtung.“

„Ich vertrage das Salzwasser nicht,“ gab das Mädchen zu bedenken, „aber ich werde versuchen mich daran zu gewöhnen, indem ich jeden Tag ein bisschen näher ans Meer heranschwimme. Versprochen!“

„Bei Aalen geht so etwas, wirklich!“, kommentierte die Forelle. Alle waren also zufrieden und nahmen noch einmal voneinander Abschied. Kurz darauf beschloss die Forelle, die Rifffische wieder aus ihrer Flasche heraus zu lassen.

„Danke, Herr Meerforelle!“ sagten die Eltern und Papa Rotfisch fügte hinzu: „Sie haben uns wirklich die Augen geöffnet.“ Nach einer herzlichen Verabschiedung schwammen alle zu ihren Wohnhöhlen, wobei sie sich über das Erlebte unterhielten. Da es schon spät war, sollte es nur eine Kleinigkeit zum Abendessen geben. „Was?“, fragte der Kleine Rote Fisch und als Mama ihm seinen Algensnack zeigte, war er hoch zufrieden. „Endlich wieder Algen!“

Mit diesem bescheidenen aber wohlschmeckenden Mahl ging wieder ein aufregender Tag für den Kleinen Roten Fisch zu Ende, er schlief rasch ein und träumte die ganze Nacht vom großen Fluss und seinen Bewohnern.

© 2017 Olivier Fuchs – http://www.derkleinerotefisch.de