6. Das kommt davon ...

Familie Rotfisch beabsichtigte, während der Ferien der Familie Weinrot einen Besuch abzustatten. Das waren Cousins von Papa Rotfisch und wohnten in einer riesengroßen Anemone, die auf einer, de r Bucht von Arcachon vorgelagerten, Sandbank wuchs. Die Vettern hatten einander lange nicht gesehen und Papa Rotfisch freute sich schon sehr auf diese Reise.

Es ging nur mehr darum, eine Urlaubsvertretung zu finden. Wohl meldete sich der Napoleonfisch sofort freiwillig, aber als er erklärte: „Keine Sorge, ich werde für die Sicherheit unseres Schönen Bunten Riffs Sorge tragen. Ich werde alle unsere Bewohner bewaffnen und zu unsterblichem Ruhm führen!“, fand Papa Rotfisch diese Äußerungen eher besorgniserregend als beruhigend, und betraute daher einen der Delphine mit der Aufgabe, während seiner Abwesenheit für Recht und Ordnung im Riff zu sorgen.

Bei Familie Weinrot gab es keine Kinder im Alter des Kleinen Roten Fischs und daher hatte Mama Rotfisch vorgeschlagen, den Kleinen Blauen Fisch mitzunehmen, der seinerseits von der Idee ganz begeistert war. Seine Eltern waren auch einverstanden, und so stand der Abreise nichts mehr im Wege.

Es war eine lange Reise, aber die Stimmung war gut und die Fische fanden problemlos Plätze, an denen sie sich ausruhen oder auch eine Nacht verbringen konnten. Sie genossen die typischen Algengerichte der Landstriche, durch die sie ihre Reise führte und der Kleine Rote Fisch war vor allem von der Algenpaella absolut hingerissen. Das war eine Spezialität der Riffe des südlichen Spanien und bestand aus einer köstlichen Mischung aus Rot-, Braun- und Grünalgen, wobei letztere besonders gut abgehangen sein mussten. Den Duft dieser Köstlichkeit konnte man über mehrere Seemeilen hinweg wahrnehmen.

Nach einigen Tagen erreichten unsere Fische schließlich ihr Ziel, und wurden sehr herzlich von ihren Gastgebern empfangen, die ihnen auch voller Stolz ihre beiden Babys vorführten. „Ich habe ein paar Algen für euch vorbereitet.“, meinte anschließend Mama Weinrot, was beim Kleinen Roten Fisch ein begeistertes „Algen, endlich wieder Algen“ hervorrief.

„Danke!“, sagte Papa Rotfisch und forderte seinen Sohn auf, Mama Weinrot beim Tischdecken zu helfen.

„Ach, Papa!“ maulte der Kleine Rote Fisch, „Ich bin doch schon so müde.“ Papa Rotfisch wollte seinen Sohn für diese Unhöflichkeit rügen, aber Papa Weinrot meinte: „Lass’ gut sein! Ich zeig euch eure Schlaftentakel.“

Die Anemone, die Familie Weinrot bewohnte, war riesengroß und jedes Familienmitglied hatte seinen eigenen Tentakel, auf dem es schlief. Die Spitze des Fangarms legte sich über den Schlafenden und gewährte ihm so zusätzlichen Schutz. Papa Weinrot erklärte:

„Solche Seeanemonen können weiße Fäden absondern, die Reizungen auslösen. Aber, und das haben wir mit den Clownfischen gemeinsam, wir Buntfische sind gegen dieses Gift immun, die Raubfische allerdings zum Glück nicht. Wir werden also sehr gut von unserer Anemone beschützt, nicht wahr, Moni?“

„Schon gut. Ich passe auf euch auf, ihr Fischlein“, meinte Moni, die große Anemone. Und zu den Rotfischen gewandt sagte sie: „Seid willkommen, ihr Fische, die ihr eine Farbe habt, die der meiner

Fische gleicht und doch auch wieder nicht. Guten Aufenthalt.“ Dann schwieg sie.

„Anemonen sind nicht sehr gesprächig.“ erklärte Mama Weinrot. „Kommt jetzt zu Tisch!“

Während des Essens stellte der Kleine Blaue Fisch eine Menge Fragen über den örtlichen Flossenballverein und verglich diesen mit den Traditionsclubs Werder Brassen und Scholle 04. Der Kleine Rote Fisch wiederum wollte alles über die dortigen Algen wissen.

Nach dem Essen kündigte Mama Weinrot an. „Ich lege jetzt die Babys schlafen, dann können wir euch etwas von der Gegend zeigen. Ganz in der Nähe gibt es etwas sehr Interessantes, nämlich Sandbänke an Land. Man nennt sie Dünen und so wie unsere Sandbänke ständig von den Meeresströmungen neu gestaltet werden, erhalten die Dünen immer wieder durch den Wind ein neues Aussehen.“

„Könnten wir nicht einfach hier bleiben?“ fragte der Kleine Blaue Fisch. „Wir sind recht müde.“

„Die Reise war für die Kinder schon recht anstrengend.“ sagte Papa Weinrot. „Und außerdem, wenn die beiden Jungs hier bleiben, könn- ten sie ja auf die Babys aufpassen und wir wären weniger gebunden. Und die Dünen können wir ihnen ja auch noch morgen zeigen.“

„Na gut,“ gab Mama Rotfisch nach. „Aber zuvor müsst ihr noch beim Tischabräumen helfen.“

„Ach, Mama“, sagte der Kleine Rote Fisch weinerlich, „Ich bin doch schon so müde!“

„Lass ihn nur“, sagte Papa Weinrot wieder. „Das ist gleich erledigt.“ Und mit einem wohlgezielten Schlag seiner Bauchflosse
schubste er die übriggebliebenen Algenstängel in eine kleine
Meeresströmung, die alles fortschwemmte.

Mama Weinrot wiegte ihre Kleinen mit einem hübschen Liedchen in den Schlaf:

Guten Abend, gut’ Nacht,
mit Algen bedacht,
von Algen so satt,
schlaft Ihr gerne ein!
Morgen früh, wenn Gott will,
gibt es Algen so fein.

Die Kleinen liebten dieses Lied, bei dem auch der Kleine Rote Fisch seine Lippen leckte, und waren schnell eingeschlafen. Mama Weinrot erklärte:

„Wir können jetzt gehen.“ Da meldete sich Moni, die Anemone: „Vergesst nicht, meine Tentakel zu putzen. Sie sind voller Sand und da kann ich meine Giftfäden nicht abschließen.“

„Du hast Recht, das hätte ich fast vergessen. Wenn wir das aber jetzt noch machen, wird es zu spät, um euch noch irgendetwas zu zeigen. Kleiner Roter Fisch und du, Kleiner Blauer Fisch, könnt ihr bitte Monis Tentakel entsanden. Das ist wichtig, umso mehr als ein Rochen in der Gegend sein Unwesen treibt.“

„Aber wir sind doch schon so müde“, jammerte der Kleine Rote Fisch abermals, da wurde Papa Rotfisch allerdings böse: „Es reicht! Ihr macht das jetzt und zwar ordentlich, sonst seid ihr in Gefahr. Und keine Widerrede!“

Unwillig aber doch begannen die Kleinen Fische, die Tentakel vom Sand zu säubern, während sich die Erwachsenen zur Küste aufmachten. Doch schon bald sagte der Kleine Rote Fisch zu seinem Freund: „Das muss jetzt reichen, ich mag nicht mehr. Meine Eltern sind eh weg, gehen wir Ball spielen!“ Das ließ sich der Kleine Blaue Fisch nicht zweimal sagen, vergessen war die Müdigkeit und sogleich war ein munteres Ballspiel im Gange während sich die Anemone beschwerte: „Die meisten meiner

Tentakel sind nicht einsatzbereit. Habt ihr nicht gehört, dass sich ein Rochen hier herumtreibt?“

„Spielverderberin!“ dachten die beiden und setzten ihr Spiel fort, als ein kleiner Steigaal an ihnen vorbeischwamm und ihnen zurief: „Macht, dass ihr wegkommt, Kinder, der Rochen ist gleich hinter mir!“ Und weg war er.

„Schnell, in die Anemone!“ rief der Kleine Rote Fisch und kaum waren sie in Moni hineingeschlüpft, kam auch schon der Rochen des Wegs, schnupperte kurz und steuerte auf die Anemone zu.

Den beiden Kleinen Fischen war durchaus bewusst, dass sie noch nicht außer Gefahr waren und dass sie selbst daran schuld waren. Was tun? „Mit welchen ihrer Tentakel können Sie denn noch Giftfäden abschießen?“ fragten sie die Anemone.

„Die hier rechts müssten noch funktionieren“, antwortete Moni, „Aber ihr müsst ganz nah heran. Alle anderen Tentakel sind noch voller Sand, aber das wisst ihr ja selbst am besten.“

„Nichts wie hin! Und die Babys nicht vergessen!“ rief der Kleine Rote Fisch. Jeder klemmte sich ein Baby unter die Brustflosse und so erreichten sie die ungewisse Sicherheit von Monis wenigen bereits gesäuberten Tentakeln. Mittlerweile hatte sie der Rochen erblickt und näherte sich der Anemone. Er wusste nicht, dass diese kaum in der Lage war, ihm Schaden zuzufügen und ging daher vorsichtig ans Werk. Er schob einen Tentakel nach dem anderen zur Seite und war bald schon zur Hälfte in die Behausung der Familie Weinrot eingedrung.

In diesem Augenblick sah der Rochen die Kleinen Fische und sein Maul öffnete sich zu einem ekelhaften Grinsen: „Willkommen, Abendessen!“, rief er mit pfeifender Stimme. Da wachten die Babys auf und als sie in das direkt vor ihnen drohend aufgerissene Maul des Rochens blickten, begannen sie voll Entsetzen aus Leibeskräften zu brüllen.

Bei diesem Geräusch erschrak der Rochen und sein ganzer Leib zuckte zusammen. Diese Bewegung war so heftig, dass dabei fast der ganze noch verbliebene Sand aus den Tentakeln der Anemone abgeschüttelt wurde und Moni konnte wieder mit voller Kraft ihr Gift versprühen, was sie auch tat. Eine wahre Lawine von Giftfäden ergoss sich über den Rochen, der unter lautem Wehgeschrei „Au! Schmerz! Hilfe! Au!“ die Anemone verließ und zum Rand der Sandbank floh.

„Da haben wir noch einmal Glück gehabt!“ bemerkte der Kleine Rote Fisch. „Aber es war knapp!“

„Allerdings!“, fügte Moni hinzu. „Das kommt davon, wenn man seine Arbeit nicht ordentlich erledigt!“

Sehr kleinlaut und mit äußerst schlechtem Gewissen sangen die Kleinen Fische nun den Babys das Wiegenlied vor, das sie zuvor von Mama Weinrot gehört hatten. Als die Kleinen eingeschlafen waren, begannen sie mit schon fast peinlicher Genauigkeit, jeden einzelnen Tentakel der Anemone zu säubern. Als die Erwachsenen zurückkamen, war kein einziges Sandkorn mehr vorhanden und jeder Tentakel war auf Hochglanz geputzt.

„Seht euch das an!“ rief Papa Weinrot aus. „Das ist ja unglaublich gut gemacht. So sauber war Moni noch nie. Ich muss euch wirklich loben.“

„Äh, da wäre noch was.“ gestand der Kleine Rote Fisch. „Ich fürchte, wir müssen euch etwas beichten.“ Und so erzählten die beiden Kleinen Fische, wie es wirklich gewesen war, und baten ganz reumütig um Vergebung.

„Wenigstens waren sie ehrlich.“ murrte Papa Rotfisch und die anderen Erwachsenen schlossen sich seiner Meinung an. Dennoch fügte Mama Rotfisch hinzu: „Aber ganz ohne Strafe kommt ihr nicht davon. Ihr habt jetzt wohl gelernt, dass man seine Aufgaben ordentlich erledigen muss und dass unsere Warnungen ernst genommen werden müssen. Aber mir genügt das nicht: Ihr werdet für den Rest unseres Aufenthaltes unseren Gastgebern eifrig und freudig bei der Hausarbeit helfen und ihr werdet auch das Wiegenlied für die Babys singen.“

„Ein wahrhaft salomonisches Urteil!“, lobte Papa Rotfisch. Die Kleinen Fische nahmen ihre Strafe willig an und waren froh, so relativ glimpflich davongekommen zu sein.

Bald ertönte ein fröhliches „Algen! Super! Endlich wieder Algen!“, das auf der ganzen Sandbank zu hören war und Familie Rotfisch, Familie Weinrot und der Kleine Blaue Fisch verbrachten den Rest der Ferien in zufriedener – und hilfsbereiter – Harmonie.

© 2017 Olivier Fuchs – http://www.derkleinerotefisch.de